Fünf Steine

Fünf Steine 

Eine Geschichte über Gaben und Aufgaben

Zu sehen sind ein Stapel aus Steinen vor einem Sonnenaufgang / Fünf Steine

Der Erfinder des Lebens legte einem Knaben fünf Steine mit in die Wiege und sprach zu ihm: „Diese Gaben sollen dich begleiten, solange du auf der Erde verweilst. Manchmal werden sie schwer auf dir wiegen; manchmal legst du sie auf die Goldwaage; manchmal wirst du merken, wie viel Gewicht sie deinem Dasein geben. Trage sie in deinem Rucksack mit dir durch das Leben und du wirst spüren, dass die fünf Steine zu dir gehören!“

Der Knabe wurde groß und machte sich auf den Weg. Die Last auf dem Rücken verdarb ihm nicht die Lust im Herzen, mutig voranzugehen. Er pfiff fröhlich seine Lieder, während er die Berge und Täler, die Wüsten und Wälder durchquerte.

Nach einer Weile überholte der Knabe ein altes Mütterchen. Aus der Ferne sah er bereits, dass es Schmerzen hatte und nur noch schwerlich vorankam. „Wie viele Steine schleppst du mit dir herum?“, wollte er mitleidig von ihm wissen. 

Völlig außer Atem sagte es: „Zwei Steine …“

Der Knabe überlegte leise: „Ich werde beim Erfinder des Lebens bestimmt einen Stein im Brett haben, wenn ich nicht nur meine fünf Steine trage, sondern auch noch andere!“ Und so lud er das alte Mütterchen dazu ein, seinen Rucksack zu leeren und heiter weiterzugehen.

Der Knabe setzte seine Reise fort. Aber irgendwie war er nicht mehr so unbeschwert wie vorher. Er sang seltener Lieder, weil er die Last auf dem Rücken spürte. Und dennoch gab er nicht auf. Er wanderte weiter auf Durststrecken und Auswegen, bis er auf einer Anhöhe einem anderen Menschenkind begegnete. Abgekämpft und verdrossen saß es auf einer Parkbank. Mürrisch schüttelte es den Kopf, weil es mit seinen neun Steinen haderte. „Das ist unfair!“, dachte der Knabe. „Wenn ich ihm einen Stein abnehme, wird ihm ein Stein vom Herzen fallen. Denn dann haben wir gleich viel Last zu tragen.“ Nachdem er mit ihm gesprochen hatte, steckte er sich den einen auch noch in den Rucksack und marschierte weiter. 

Allmählich stöhnte der Knabe auf seinem Lebensweg. „Die Last ist so schwer, die der Erfinder des Lebens mir aufgebürdet hat!“ Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Die Striemen des Rucksacks ließen ihn leiden. Und seine Füße hatten mittlerweile auch große Blasen.

Als der Knabe endlich am Ziel angekommen war, fragte er den Erfinder des Lebens: „Warum hast du mir das angetan? Mein Weg war so beschwerlich. Hast du ein Herz aus Stein?“

Milde sah ihn der Erfinder des Lebens an. „Hatte ich dir nicht nur fünf Steine in deine Wiege gelegt? Was ist mit dem Rest?“

„Ich dachte, es ist ein Akt der Nächstenliebe, wenn ich die Lasten meiner Mitmenschen trage!“, rief der Knabe enttäuscht aus. 

„Ja, Empathie ist wichtig; Anteilnahme ist richtig, aber du kannst keinem anderen Menschen wirklich seine Gaben abnehmen, weil sie euch von mir gegeben wurden …“, erklärte der Erfinder des Lebens. Er machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu: „Lieber Knabe, du sprichst nur von Lasten, aber ich habe euch Gaben mit auf den Weg gegeben. Erinnerst du dich an das alte Mütterchen? Ihm habe ich ursprünglich nur einen Stein anvertraut. Und dem anderen Menschenkind wurden drei Steine überlassen. Aber ihr — ihr seid mir und euch selbst nicht treu geblieben! Als ich euch erfunden habe, habe ich mir ganz genau überlegt, was jede und jeder von euch tragen … ertragen … vertragen kann. Nur daran könnt ihr wachsen und reifen; nur darin könnt ihr aufblühen. Ihr selbst macht euch stein-reich, aber ich möchte, dass ihr sein-reich zu Hause ankommt!“